Montag, 2. Mai 2011

Projektionen, Wünschen und Visionen- im Dienst einer „höheren Wahrheit“ zu handeln


Gerd Lüdemann (* 5. Juli 1946 in Visselhövede) ist ein deutscher Professor für Neues Testament. Von 1983 bis 1999 lehrte er dieses Fach an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Seit 1999 lehrt er dort mit einem Sonderstatus „Geschichte und Literatur des frühen Christentums“. Er ist verheiratet und hat vier Töchter und acht Enkelkinder.



Im März 1998 veröffentlichte Gerd Lüdemann das Buch Der große Betrug. Und was Jesus wirklich sagte und tat. Darin unternahm er eine „Analyse sämtlicher überlieferter Jesusworte und -taten“ in den vier kanonischen Evangelien und im Thomasevangelium, um festzustellen, welche davon vom historischen Jesus von Nazaret stammten und welche ihm nachträglich zugeschrieben worden seien.[1]
Aufgrund seiner eigenen Kriterien für echte und unechte Jesusworte kam er zu dem als „empirisch“ bezeichneten Ergebnis, dass nur ein kleiner Bestand von etwa fünf Prozent der gesamten Jesusüberlieferung auf Jesus selbst zurückgehe. Dieses Ergebnis verband er mit dem Urteil, schon das Urchristentum habe begonnen, Jesu Worte und Taten „zu verfälschen und übermalen“ und sich „Jesus so zurechtgemacht, wie er ihren Wünschen und Interessen entsprach und wie er ihnen im Kampf gegen Abweichler und Andersgläubige am nützlichsten zu sein schien.“[2]
Zu dieser instrumentalisierenden Verfälschung zählte Lüdemann neutestamentliche Texte zur leiblichen Auferstehung Jesu Christi, zurSühne-Theologie, etwa die Abendmahls-Texte, apokalyptische Texte vom Endgericht und alle Texte, die aus seiner Sicht Jesus als göttliches Wesen verkünden und einen Offenbarungsglaubenvoraussetzen. Diesen beurteilte er als Projektion und folgerte in seinem als „Brief an Jesus“ betitelten Schlusskapitel:
„Auf Projektionen, Wünschen und Visionen kann keine echte Religion aufgebaut werden, auch dann nicht, wenn sie so gewaltig auftritt wie die christliche Kirche, die Dich sogar zum Weltenherrn und kommenden Richter erhoben hat. Du aber bist nicht der Weltenherr, als den Dich Deine Anhänger infolge Deiner Auferstehung erklärt haben, und Du wolltest es auch nicht sein. Du hast das zukünftige Reich Gottes verkündigt, gekommen aber ist die Kirche. Du hast Dich getäuscht, und Deine Botschaft ist von Deinen Anhängern zu ihren eigenen Gunsten gegen die historische Wahrheit verfälscht worden. Deine Lehre war ein Irrtum, denn das messianische Reich ist ausgeblieben.“
– Lüdemann, Gerd: Der große Betrug. Und was Jesus wirklich sagte und tat. Zu Klampen Verlag 1998[3]
Lüdemann stellt sich damit in die Tradition von Hermann Samuel Reimarus: Dieser hatte Jesus in seinen 1774 bis 1778 von Gotthold Ephraim Lessing veröffentlichten Schriften als politischenMessiasanwärter, dessen Naherwartung enttäuscht wurde, dargestellt und den ersten Christen die betrügerische Erfindung des Auferstehungsglaubens zugeschrieben. Ferner folgt Lüdemann derReligionskritik Ludwig Feuerbachs, der den Glauben an einen Gott, eine Inkarnation dieses Gottes und andere, vornehmlich lutherisch-christliche Dogmen als psychologisch verständliche, aber für den Fortschritt des Humanismus zu überwindende Wunschprojektion beschreibt. Der um 1900 gefallene Satz „Jesus kündete das Reich Gottes an, und gekommen ist die Kirche“ stammt vom französischen katholischen Theologen Alfred Loisy.[4]
Lüdemann trat mit weiteren Büchern als Kirchenkritiker hervor, die vor allem den Auferstehungsglauben historisch widerlegen möchten („das Grab Jesu war voll“).[5] In diesen Zusammenhang gehört auch seine kritische Rezension des Buches Jesus von Nazareth. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung von Papst Benedikt XVI.: Es sei „intellektuell unglaubwürdig“ und eine „peinliche Entgleisung“, die die historische Bibelkritik „vor den Karren des römisch-katholischen Glaubens spanne“.[6]

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